Kolumnen & Essays

{Die Geschichte hinter dem Buch} Schattengesicht von Antje Wagner

Der Autor ist tot – es lebe der Autor? Ja, natürlich kann man einen Text interpretieren, indem man seinen Urheber und die Umstände seiner Entstehung verleugnet, nicht achtet. Muss man aber nicht. Denn verpasst man hierbei nicht auch etwas? Lässt man damit nicht absichtlich, bewusst wichtige Informationen außer Acht? „Die Geschichte hinter dem Buch“ schlägt genau den gegenteiligen Weg ein: Ich frage darum ganz bewusst nach: Was steht hinter deiner Geschichte?

Düster, erschreckend, menschlich, irrsinnig, trotzdem real. So sind die Geschichten, die Antje Wagner aus Worten zeichnet. Und auch für sie ist klar – wie fantastisch eine Geschichte vielleicht auch sein mag: „Wenn dir ein Autor oder eine Autorin erzählt, dass ein Buch völlig unabhängig von ihm oder ihr wäre, dass es nichts mit ihnen zu tun hätte – dann lügen sie. Ehrlich!“ Jedes Buch, das uns verlasse, sei letztlich durch unsere Gedanken- und Gefühlswelt gelaufen. „Bei manchem tiefer, bei anderen dichter an der Oberfläche, aber es ist an vielen Stellen schier durchtränkt von seinen Autorinnen und Autoren.“

Antje Wagner (Foto: Hannes Windrath)

Die Protagonistin von „Schattengesicht“  Milena ist ein durch und durch sympathischer Charakter. Sie ist klug und schlagfertig und kommt mit allen Widrigkeiten ihres Lebens klar. Allerdings versteckt sich in ihrer Vergangenheit ein wirklich düsteres Geheimnis.

Nun aber zu glauben, Antje Wagner hätte sich in eine solche Geschichte geschrieben – den Autor eines Buches also mit seinen Protagonisten auf eine Ebene zu setzen –, wäre fatal. Denn die Elemente einer Geschichte, die eng mit ihrem Urheber verstrickt sind, können ganz andere sein, als man denkt. In „Schattengesicht“ sind es die Orte von Antje Wagners Leben und ihre Gefühle, die Eingang in das Werk gefunden haben.

„Als ich das erste Mal über Orte schrieb, die ich kannte, fiel mir etwas Essentielles auf: Wenn man den Ort kennt, schreibt es sich tausendmal leichter. Ich muss dann z.B. keine Angst haben, dass ich die Linde mal rechts neben das Haus hinschreibe, mal links oder mal ganz vergesse. Wenn ich den Ort kenne, passieren solche Fehler nicht, weil der Ort im Kopf da ist.“

Das mühsame Erarbeiten von fiktiven Orten und das Fehlerpotenzial sind das eine. Den Ort im Kopf schon so präzise vorhanden zu haben, hat aber noch einen Vorteil: „Ich brauche bei real erlebten Orten keine Baupläne, Dorfzeichnungen etc. Ich entwickle den Ort einfach aus meiner Erinnerung. Und dadurch werde ich konkret und genau. Weil ich mir nicht erst die Basis ausdenken und zusammenzimmern muss (die ist schon da), sondern die Details anschauen kann. Und das tut einem Text immer gut – weil er durch Konkretes und durch Details sinnlich wird, anfassbar.“

Und das macht auch die Geschichte in „Schattengesicht“ um einiges realistischer, so nahe an der wirklichen Welt, dass es manchmal beim Lesen schwerfällt, zu unterscheiden. Denn im Grunde existiere fast jeder Ort der fünf Handlungsstationen im Roman auch in der Wirklichkeit.

Der Jungbusch sei eine rohe Gegend, hatte mich Polly am Anfang aufgeklärt. Riskant. Zumindest in den Straßen, wo keine Laternen brannten.

Jungbuch, Mannheim (Foto: andreas stix / pixelio.de)

Eine Station der Geschichte spielt in Mannheim – in gewisser Weise ein Heimspiel für Antje Wagner, obwohl die 1974 in der Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt) geboren wurde – tiefste DDR also. Die Erklärung ist einfach: „Ich war 2009 Mannheimer Stadtschreiberin, habe mehrere Monate in der Stadt gelebt.“ Allerdings zu der Zeit nicht im Jungbusch, dem Mannheimer Stadtbezirk, in dem das Buch spielt. Als sie „Schattengesicht“ gerade beendete, hatte sie aber für einen Monat eine kleine Wohnung in dem berühmt-berüchtigten Viertel mit sehr hoher Arbeitslosenquote (72%) angemietet, in dem überwiegend einkommensschwache Familien leben. „Ich war mittendrin. Ich wollte das Viertel ins Gefühl zu bekommen. Das ist in das Buch eingeflossen.“

Die Zeit in Ole Janssons Haus war bis zu dem schrecklichen Irrtum unsere glücklichste.

Ein einsames Haus (Foto: pixabay)

In der vierten Station geht es für Milena und ihre Freundin nach Schweden. Dieser Ort sei halb real, halb fiktiv. „Ich kannte einmal einen ähnlichen Ort – einen Rückzugsort in Schweden. Wunderschön.“ Der Hauptgrund aber, weshalb sie Schweden als eine von fünf Handlungsstationen einbaute, sei ein anderer. „Skandinavien ist eine bedeutende Krimi-Heimat  und das wollte ich in dem Buch gern würdigen. So eine Art interne Botschaft also: Dies ist ein Krimi, und Krimis ohne den skandinavischen Strom sind heute undenkbar!“ Wie könnte man sich auch besser vor den großen skandinavischen KrimiautorInnen verbeugen und diese ehren, als damit, Skandinavien im eigenen Krimi zu zitieren? Nicht nur realistisch, sondern auch feinsinnig.

Warum das Gasthaus Zum Anker hieß, war rätselhaft, denn es stand an keinem See- oder Flußufer, sondern in der Mitte des Dorfs, direkt an der Straße.

Ein Gasthaus im Dorfkern. (Foto: Rudolpho Duba / pixelio.de)

In der nächsten Station dieses übrigens rückwärts geschriebenen Buches geht es in Milenas Kindheit zurück, in einen kleinen Ort namens Schönewalde an der Elbe. „Milana wächst in einer Dorfwirtschaft inmitten einer regelrecht krassen Natur auf. Diesen Ort gibt es wirklich – wenn auch nicht unter diesem Namen.“  Es ist das Dorf, in dem Antje Wagners Großeltern an der Elbe wohnten und eine ebensolche Wirtschaft führten wie Milenas Mutter. „Ich war als Kind sehr, sehr oft dort. Ich erinnere mich vor allem an die unglaubliche Natur. Diese brachiale, fast schon verbrecherische Natur. Das fließt stark in den Text ein. Ich erinnere mich an das alte Haus, verwinkelt, verwunschen, daran, wie ich nachts im Bett lag und unter den Bodenbrettern waren die dumpfen Bässe zu hören, und wenn die Musik aus war, das Gemurmel der Gäste. So bin ich aufgewachsen.“ Und so ist es Milena.

Das Reale an „Schattengesicht“ sind vor allem die Stimmungen und Orte, die Antje Wagner aus ihren Erinnerungen beschworen hat. Ihre persönlichen Gefühle bringen die Geschichte der Wirklichkeit so noch einen Schritt näher; machen Milena und ihr Leben realer. Und manchmal sind es eben doch sogar wirklich geschehene Erlebnisse – nicht nur Ort und Empfindungen –, die Eingang in ein Buch finden. Wer könnte realistischer sein als das Leben selbst? „Wie meine Hauptfigur Milana in der zweiten Station habe auch ich eine Weile als Zimmermädchen gearbeitet. Ich kenne diese Arbeit in erstklassigen Hotels also gut – diesen Kontrast zwischen dem nach außen präsentierten Schein und dem Leben hinter den Kulissen. Und auch ich hatte übrigens einmal eine ähnlich sadistische Chefin.“ Der Ausgang dieser Episode in „Schattengesicht“ sollte aber hoffentlich nicht der Wagner‘schen Realität entsprechen …

Keines der Bücher, die Antje Wagner bisher schrieb, ist leichte Kost. Das, was ihre Geschichten so bewegend macht, die Leserinnen und Leser so sehr mitnimmt, ist nicht nur, was sie von sich in die Geschichten flicht, sondern auch dass sie reflektieren. Auch der Schreibende, hat er seine Berufung gefunden, durchlebt, was er zu Papier bringt, weint Rotz und Wasser um die Schicksale, die er aus der Wirklichkeit zieh oder ganz neu erschafft. „Schattengesicht erzählt die Geschichte eines Verrats und einer darauf folgenden grundlegenden Einsamkeit. Das habe ich beim Schreiben durchlebt. Wenn das passiert, ist das schlimm. Aber es wird eben auch intensiv und es zeigt mir, dass ich tief in den Charakteren bin. Dass ich nicht auf irgendeiner Oberfläche dahin dümple, Klischee an Klischee und Worthülse und Worthülse hefte und die Gefühle der Figuren nur behaupte. Ich fühle sie in diesem Moment.“

Antje Wagner - SchattengesichtFiktives auf diese Weise real werden zu lassen, zwei Leben zu gleich so intensiv zu leben, das brauche Zeit, das könne man nicht einfach runterschreiben. Es sei eben immer ein Durchleben und Durchleiden müssen. Aber das müsse eben sein, soll eine Geschichte wirklich gut werden. „Ein Buch entkommt dadurch der Trivialität, denke ich. Es dringt unter die Oberflächen des Fühlens, des Denkens, wird tiefer, glaubhafter.“

Das so tiefe Eintauchen in die Figuren erschaffe eine Welt unter der Oberfläche. Und diese kann nicht frei sein von den Erlebnissen, Gefühlen, Geschichten desjenigen, der die aufschreibt. Sie kann ohne all das Brimborium, den Ballast des Autors, gelesen werden. Eine gute Geschichte verliert dabei nicht an Wert. Und die meisten Geschichten werden auch nur so gelesen. Dennoch zählt am Ende aber doch auch die Bedeutung, die eine Geschichte für denjenigen hat, der sie schreibt, nicht nur die für den, der sie liest.

Zitate aus: Antje Wagner: Schattengesicht, Bloomsbury Verlag, 2012

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1 Comment

  • Reply [Rezension] Schattengesicht von Antje Wagner – queerBUCH 2. März 2018 at 15:51

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