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{Rezension} Unland von Antje Wagner

Die vierzehnjährige Franka muss von Berlin nach Waldburgen ziehen, in ein Elbdorf mitten in Sachsen-Anhalt. Sie ist der „Neuzugang“ im Haus Eulenruh, einem Wohnprojekt für sieben Kinder und Jugendliche. Doch irgendetwas stimmt nicht in dem Ort. Wieso schweigen die Erwachsenen so beharrlich, wenn man sie auf das verlassene Dorf Unland, diese Ruinenlandschaft am Waldrand, anspricht? Als plötzlich ein Junge aus dem Haus Eulenruh verdächtigt wird, einen Diebstahl begangen zu haben, gründet Franka eine Bande. Während die „Eulen“ versuchen herauszufinden, wer hinter der Verleumdung steckt, stoßen sie auf ein viel größeres und unheimlicheres Geheimnis.

Rezension

Nach einigen Werken für erwachsene Leserinnen und Leser erschien 2009 der erste Thriller für Jugendliche aus der Feder von Antje Wagner im Verlag Bloomsbury Kinder- und Jugendbücher. Unland blieb nicht unbeachtet und heimste gleich mehrere Auszeichnungen ein, unter anderem den ver.di-Literaturpreis und den Mannheimer Feuergriffel. Außerdem landete der Roman auf der Empfehlungsliste der Internationalen Jugendbibliothek München (The White Ravens).

Angesiedelt ist die Handlung im idyllischen Waldburgen, einem fiktiven Örtchen in Sachsen-Anhalt. Hier, im Haus Eulenruh, soll die vierzehnjährige Franka ein neues Heim finden, in dem sie mit anderen Kindern und Jugendlichen sowie den beiden Betreuern lebt. Schon bei ihrer Ankunft ist klar, dass dieser Flecken Erde völlig anders ist als Berlin, wo das eher unkonventionelle Mädchen herkommt. Unkonventionell daher, weil Franka auf den ersten Blick aussieht wie ein Junge, und dadurch besonders in dieser Umgebung auf Anlehnung trifft – nicht zuletzt, weil die Bewohner von Eulenruh sowieso schon als Unruhestifter und Problemkinder abgestempelt sind. Der Handlungsort und damit die Gegensätze, die hier aufeinanderprallen, versprechen schon zu Beginn explosives Material.

Waldburgen ist jedoch nicht so verschlafen, wie es den Anschein macht. Immer wieder begegnet Franke Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten, sodass bald klar ist, dass in diesem Dörfchen ein unangenehmes Geheimnis unter den Teppich gekehrt wurde – und dort soll es bitte schön auch bleiben. Zu dumm nur, dass die Schuldigen eines Diebstahls im Haus Eulenruh gesucht werden, denn das ruft Franka und ihre neuen Freunde auf den Plan. Sie wollen ihre Unschuld verteidigen und ahnen nicht, was sie damit lostreten.

Antje Wagner nimmt sich in Unland sehr viel Zeit, um die Leserinnen und Leser im Geschehen ankommen zu lassen. Gemeinsam mit Franka lebt man sich ein, lehrt die anderen Mitbewohner des Hauses kennen, hat Reibereien mit den Waldburgenern, besonders den Mitschülern und Lehrern. Es spielt sich fast ein Alltag ein und Unland, der Ort hinter dem Zaun, der nicht betreten werden darf,  ist irgendwann ganz vergessen. In der ganzen ersten Hälfte kann man durchaus von einem sehr realitätsnahen Jugendbuch sprechen. Die Probleme der jungen Leute, das Bewältigen der schlimmen Vergangenheiten der Heimkinder, die Schwierigkeiten der Integration am neuen Wohnort, die Ablehnung, auf die man trifft, Vertrauen, das neu aufgebaut werden muss – all dies bestimmt den Roman unheimlich stark. Auf den „Thrill“ wartet man zunächst vergebens, bis man ihn vollkommen verdrängt hat. Seltsames nimmt man – wie Franka – zwar wahr, beachtet es aber nicht weiter. Erst nach der Hälfte des Romans beginnt die Geschichte sich zu wandeln. Und als dann das Unglaubliche hereinbricht, ist man ebenso fassungslos und hilflos wie die Protagonisten. Ein Effekt, den die Autorin nur durch diese intensive Einführung und das gekonnte Ablenken vom Ungewöhnlichen erreichen konnte. Das Ende, auf das die Geschichte still und leise zurast, ist unausweichlich, denn sowohl die Protagonisten als auch die Leserschaft bemerken erst viel zu spät, was das dunkle Geheimnis des idyllischen Örtchens ist.

Der Schreibstil der Autorin ist wie gewohnt sehr lebendig und metaphorisch, und erreicht dadurch ein angenehmes Lesegefühl. Immer wieder überzeugt Wagner durch einfallsreiche und einzigartige Formulierungen.

Der Satz stand im Raum wie ein stiller schwarzer Schatten. Doch plötzlich begann er zu zittern, erst ein bisschen an den Rändern, dann immer mehr. Und auf einmal machte es Klick in meinem Kopf, und mein Herz setzte einen Schlag aus.

– Wagner: Unland, S.38

Indem sie Franka aus der Ich-Perspektive beschreiben lässt, bringt sie einen frischen, jugendlichen Erzählstil hinein, der jedoch zu keiner Zeit rotzig, sondern viel mehr sympathisch, stellenweise erfreulich humorvoll wirkt. Zudem schafft sie es, die zwiespältige Atmosphäre jedes Ortes individuell einzufangen: Waldburgen ist nicht bloß idyllisch, sondern besitzt den misstrauischen Zug seiner Bewohnen. Der Wald ist nicht nur lauschig und kühl in der Sommerhitze, sondern auch düster und vermittelt das Gefühl, man würde von unsichtbaren Augen beobachtet werden. Selbst auf dem bunten Rummel schwingt der Eindruck von unheimlicher Verlassenheit mit.

Wer sich nun fragt, wohin der Roman einzuordnen ist, wird feststellen, dass die Antwort hierauf gar nicht so leicht zu finden ist. Das Besondere an Unland ist, dass es eben nicht nur ein spannendes Buch für Jugendliche ist, sondern eine jugendliche Realität in den Mittelpunkt stellt, die – neben der Geschichte – auch essentielle Themen anspricht: Toleranz, Homosexualität, die Frage nach der Normalität, Mobbing, Selbstverwirklichung, Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung. Die Elemente von Thriller und Fantasy sind lange nur Zaungäste, geraten fast in Vergessenheit und können darum umso härter zuschlagen.

Einen – wie mir vorkam – unendlich langen Moment war es erschreckend still, so als hätten alle um uns herum den Atem angehalten. Und dann schrie ein kleines Mädchen: „Stromausfall! Es ist Stromausfall!“ Es klang aber eher, als würde sie schreien: „Lauft! Lauft um euer Leben!“
Ich wollte gerade was Witziges zu Ann sagen, als ich das Getrappel hörte. Hektisches Getrappel von Füßen um uns herum. Taschenlampen und Handylichter wurden hastig angeschaltet. Und dann fingen die Waldburgener an, sich beim Namen zu rufen. Sie riefen ihre Familien zusammen, Geschwister und Freunde. Sie griffen sich fest an den Händen und rannten los. Um nicht zu sagen: Sie stoben davon.

– Wagner: Unland, S.225

Fazit

Spannend, echt, besonders: Wer einen realitätsnahen, absolut unvorhersehbaren Jugendroman mit fantastischen Elementen sucht, ist bei Unland als Buch goldrichtig – und bei Antje Wagner als Autorin sowieso.

Bewertung

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Antje Wagner: Unland I Bloomoon I 380 Seiten I 987-3-8333-5052-8 I 9,95 Euro

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