Es ist wieder Donnerstag, also darf ich sagen: Willkommen zurück beim Kinderbuch-Spezial im Tintenmeer. Letzte Woche ging der erste Beitrag dieser Artikelreihe online und in den nächsten Wochen sollen weitere Interviews, Rezensionen, Buchtipps und Artikel rund um die Welt der Kinderbücher folgen. Heute steht der zweite Teil der Geschichte des Kinderbuchs auf dem Plan. Wir gehen aber nicht mehr so weit zurück wie beim letzen Mal, nur noch gut 150 Jahre. Also auf gehts!
Die Geburtsstunde vieler Kinderbuch-Klassiker
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Alphabetisierung schon so weit fortgeschritten, dass ein sehr großes Publikum erreicht werden konnte. Wo zu Beginn noch Moral und Belehrung im Mittelpunkt standen, verschwand dieser Anspruch als zentraler und alleiniger Zweck mehr und mehr aus dem Kinderbuchgenre. Bücher für Kinder durften und sollten nun auch unterhalten. 1865 erschien ein Buch, das Experten zufolge völlig frei jedweder moralischen Botschaft ist: Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ – ein Klassiker der Weltliteratur, an dem vermutlich kein Kind oder Erwachsener vorbeigekommen ist. Denn der Stoff wurde vielfach verfilmt und findet sich als Bezug in vielen Werken anderer Autoren, Regisseure und Künstler wieder. Auch die Geschichte von Pooh, dem Bären von A. A. Milne (ab 1926) gehören zu diesen ersten sehr erfolgreichen Büchern für Kinder, die heute den Status des Klassikers tragen und immer noch in vielen Kinderzimmern zu finden sind.
Die Königin wurde purpurrot vor Wut, und nachdem sie sie einen Augenblick wie ein wildes Tier angestarrt hatte, fing sie an zu brüllen: „Ihren Kopf ab! Ihren Kopf …“
„Unsinn!“, sagte Alice sehr laut und bestimmt, und die Königin war still.
– Lewis Carroll: Alice im Wunderland
Damit entsteht auch eine weitere Bewegung in dem Genre. Mehr und mehr zog das Fantastische ein in die Literatur für Kinder. Und mit der Fantastik auch Science Fiction. Und wo diese beiden Elemente sind, ist auch das Abenteuer. Jules Vernes und Karl Mays Geschichten entstehen und bringen diese Elemente in die Welt der Kinder und jungen Leserinnen und Leser. Die Rezipienten dieser Erzählungen waren zumeist Jungen. Für die Mädchen entstand eine Art Gegenbewegung: Die „Backfischbücher“, die sie auf ihre Rolle in der Gesellschaft als Hausfrau, Ehefrau und Mutter vorbereiten sollten. „Heidi“ von Johanna Spyri (1882) und „Trotzkopf“ von Emmy von Rhodens (1885) sind hier bekannte Beispiele. In „Heidi“ zeigte sich auch, dass sich in der Gesellschaft eine Zivilisationskritik entwickelte, die auch in das Genre einzog. Der Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation wurde viel mehr wahrgenommen. In Spyris Buch prallen die beiden Welten „Almidylle“ und „Großstadt“ heftig aufeinander und verdeutlichen den Konflikt. Bücher wie „Das Dschungelbuch“ (1894), „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Graham (1908) und „Biene Maja“ (1912) setzten diesen Trend fort. Danach erschienen die Großstadtromane auf dem Plan, die die Begeisterung für diese weckten, aber auch auf soziale Probleme aufmerksam machten. Erich Kästners „Emil und die Detektive“ und „Das doppelte Lottchen“ sind Beispiele.
1933 gab es einen Bruch. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wirkte sich extrem stark auf die Literatur für die junge Leserschaft aus. Staatliche Kontrolle sollte hier sicherstellen, dass nur noch Bücher gelesen wurden, die der nationalsozialistischen Ideologie dienen. Propagandaliteratur wie „Hitlerjunge Quex“ (1932) standen auf dem Plan. Bücher von politisch anders Gesinnten (z.B. Erich Kästner) wurden verboten und in Bücherverbrennungen vernichtet.
Nach dem Krieg treten Kinderbuchhelden wie „Pippi Langstrumpf“ (1944) auf dem Plan. Autoren entwerfen in ihren Geschichten Schon- und Freiräume für kindliche Gedanken und Wünsche. Pippi macht sich die Welt, wie es ihr gefällt. Ottfried Preußler knüpft an eine traditionelle Sagenwelt an, Michael Ende („Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“) entwirft das Leben aus kindlicher Weltsicht. Aber auch die gegenteilige Strategie wird von einigen Autoren verfolgt. „Timm Thaler“ und „Karlson vom Dach“ kritisieren und verweisen auf reale Probleme.
In den 1960er Jahren erfährt auch das Bilderbuch einen Wandel. Wo bisher idyllische Tier- und Pflanzenmotive vorherrschten, wurden die Illustrationen nun abstrakter und anspruchsvoller. „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Maurice Sendak bringt eine tiefenpsychologische Ebene ins Spiel. Dem Autor gelang es, verschiedene Schichten der Kinderseele in eine Geschichte zu weben, die neben den Bildern aus nur 333 Wörtern besteht (deutsche Übersetzung). (Der Psychotherapeut Jan Steinitz stand in einem interessanten Interview zur entwicklungspsychologischen Bedeutung des Buchs Rede und Antwort.)
Wie Sendak eroberten von nun an wieder viele internationale Autoren mit ihren Geschichten die Kinderzimmer. Mehrbändige Reihen wie „Fünf Freunde“, „Hanni und Nanni“ und „Die drei Fragezeichen“ ließen einen Massenmarkt entstehen. Welche populären Helden und Bücher sich seitdem in den Kinderzimmern (und Bücherregalen der Erwachsenen) tummeln? Mehr dazu nächsten Donnerstag in Teil 3!
Weiterlesen bei Teil 3 des Kinderbuch-Spezials
Bilderquelle: freepik.com
3 Comments
Sehr spannend – allerdings sind die Bücher von Karl May und Jule Verne keine Kinderbücher sondern für Erwachsene geschrieben. Kinder (oder Jugendliche) haben sie allerdings bald für sich entdeckt.
Hallo Sebastian,
schön, dass der Beitrag dir gefällt, und vielen Dank für deine Ergänzung!
LG
Sandy
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