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{Rezension} Wendepunkte von Denise Mildes

Klappentext: Am Bahnhof des Lebens entscheidet oft ein Moment darüber, welchen Zug wir nehmen. Die Türen schließen sich, die Fahrt beginnt. Das Schicksal stellt die Weichen und trägt uns in eine unbekannte Richtung. In sechs Kurzgeschichten erzählt die Autorin von den Wendepunkten, die eine Reise durchs Leben mit sich bringt. Mal findet man Glück, mal Hoffnungslosigkeit und manchmal findet man auch wieder zurück.

„Ich saß in der U-Bahn, blätterte in meinem Lieblingsbuch und war mir sicher, dass mich niemand bemerkte. Was um mich herum geschah, nahm ich nicht wahr. Vor Jahren hatte ich angefangen, die Welt ebenso zu ignorieren wie sie mich. In diesem Kokon der Gleichgültigkeit fühlte ich mich sicher.“

– Denise Mildes: Wendepunkte, S. 43 (Hüllenlos)

Rezension

Wendepunkte CoverIch hatte das Glück, ein Reziexemplar von der lieben Denise angeboten zu bekommen und habe natürlich nicht nein gesagt. ;) Allein das Cover ist schon traumhaft, oder? Es verströmt genau die richtige Atmosphäre und bereitet den Leser auf die Stimmung vor, die sie in den unterschiedlichen Storys erwartet. Ich stehe ja total auf Kurzgeschichten – sie sind für mich die „hohe Kunst des Schreibens“. Von Denise Mildes hab ich auch schon einige gelesen, die mir gut gefallen haben, in den Anthologien „Vampire Cocktail“, „Steampunk 1851“ und „Das Ende der Menschheit“.

Kurz zur Info, bevor ich zur Bewertung der einzelnen Geschichten komme: Es ist ein sehr dünnes Büchlein mit nur 56 Seiten und großzügigem Zeilenabstand, wodurch man tierisch schnell durch die Erzählungen fliegt. Also die perfekte Lektüre für das Wartezimmer beim Arzt oder die Bahnfahrt zur Arbeit. ;)

  1. Haie in Eichwalde

Gleich die erste Geschichte erweist sich als überraschend und bringt einen ins Grübeln. Der Schreibstil ist perfekt, es gibt kein Wort zu viel und keins zu wenig und ich konnte mich problemlos reinversetzen. Ich habe gemeinsam mit der Protagonistin um den Mann in der Telefonzelle gerätselt und das war ziemlich spannend. :) Das Ende war offen und ich hatte irgendwie andere Erwartungen. Es war ein bisschen wie unter einer kalten Dusche stehen gelassen zu werden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Botschaft verstanden habe, aber die Geschichte regt auf jeden Fall zum Nachdenken an, was allein schon viel wert ist …

  1. Letzter Tag

Wow, was für eine Stimmung! Traurig und melancholisch und das zu einem absolut realistischen Problem, das sicher GENAU SO jeden Tag vorkommt. Als Themen werden Arbeitslosigkeit und die Ersetzung des Menschen durch Maschinen angesprochen. Es gibt also auch ein wenig Gesellschaftskritik. ;) Ich konnte mit dem armen Protagonisten perfekt mitfühlen. Auch das Ende ist ein Abbild des wahren Lebens, es ist unspektakulär, ja glatt überraschungsfrei, aber dafür umso realistischer. Es tauchten beim Lesen viele Fragen in mir auf. Fragen wie: Wenn einem die Lebensgrundlage entzogen wird, was tut man dann? Wo geht man hin? Was ist dann noch der Sinn des Lebens? Beeindruckend fand ich auch den symbolischen Einsatz von Zügen und Menschen, die immer in Bewegung sind und täglich zu neuen Abenteuern aufbrechen – dagegen der Protagonist, der jetzt an seiner Endstation angekommen ist. Wirklich bitter und bewegend. Die letzten Sätze haben mich sehr beeindruckt und mitgenommen. Diese kleine, leise Geschichte bleibt gerade wegen ihrer Unaufgeregtheit im Gedächtnis.

  1. Das Hochzeitskleid

Das ist die einzige längere Story im Buch mit 26 Seiten, die sogar in Kapitel eingeteilt ist. Der Titel ließ erstmal auf eine Hochzeits- bzw. Beziehungsgeschichte schließen, aber weit gefehlt … Es entfaltet sich schnell ein Drama und ein Rätseln um eine mysteriöse Familiengeschichte. Mir fiel auf, dass der Schreibstil etwas anders ist, etwas unausgereifter, „einfacher“ als sonst bei der Autorin. Vielleicht ist dies eine ältere Geschichte von ihr? Es gibt aber wie immer atmosphärische, bildliche Beschreibungen der Umgebung und Gefühle. Auch die dramatisch-düstere Familiengeschichte ist ganz nach meinem Geschmack. Sie ist gut konstruiert, garniert mit kleinen Überraschungen und schlüssig (und vor allem nicht vorschnell) zu Ende geführt.

  1. Hüllenlos

Hach, hier haben wir wieder so eine schöne, kleine, unaufdringliche Story, in deren alltägliche Situation (U-Bahn-Fahrt mit Fahrkartenkontrolle) sich wohl jeder hineinversetzen kann. Denn bauen wir nicht alle eine Schutzhülle um uns auf, um uns von den Einflüssen der Umwelt abzuschirmen? Gerade am Morgen in der Bahn, wo jeder nur seinen eigenen Gedanken nachhängt mit Kopfhörern im Ohr, vergraben hinter einem Buch oder der Tageszeitung? Dazu ein nicht ganz unerwartetes, aber süßes Ende, das einen Lächeln lässt. Tolle letzte Sätze. Bravo!

  1. Vertriebsmeeting

WOW, WAS WAR DAS DENN BITTE??? o.O Ich warne euch mal lieber: Diese Kurzgeschichte ist bitterböse, schwarzhumorig und knallhart. Wie ein Schlag ins Gesicht – anders kann ich es nicht sagen! Jedes Wort ist glaubhaft und zum zynischen Hauptcharakter passend, ich habe es ihm abgekauft. UND DANN KOMMT DAS ENDE UM DIE ECKE!!! Ich kann dazu keinen Kommentar abgeben, ohne zu spoilern, aber BÄÄÄM – das ging voll in die Fresse! :o Ein wahres WTF?-Ende, dass mich aufstehen und der Autorin zujubeln ließ. So muss das bei solch einer Geschichte sein! Also macht euch auf was gefasst! *immer noch ganz geflasht bin*

  1. Wegen ihr

Hmmm, hier grüble ich noch immer über die Gründe des Mannes und der Frau nach, warum sie jetzt in einer solchen Situation sind, in der sie sich voneinander entfremdet haben. Der Leser wird mit der „Du“-Form direkt angesprochen und man konnte sich gut hineinversetzen und rätseln, was dahinter steckt und wer „sie“ ist, die hier immer wieder erwähnt wird. Am Ende lag ich falsch und bin nicht darauf gekommen. Die Gefühle werden eindringlich und mitfühlbar beschrieben, ich hätte mir nur mehr Infos zu den Hintergründen gewünscht, so blieben doch viele Fragen offen. Aber wahrscheinlich soll das so sein. Der Leser soll sich selbst Gedanken machen und die wohl bekannte Situation mit eigenen Erfahrungen füllen …

Fazit

Ein ausgereifter und tiefgründiger Schreibstil trifft auf präzise Beobachtungen der Gesellschaft und der menschlichen Natur. Eine melancholische und geheimnisvolle Atmosphäre zieht sich durch alle Texte. Auch wenn vor allem die Enden einiger Geschichten nicht ganz meine Erwartungen getroffen haben, findet der geneigte Leser hier eine bunte (bei der Stimmung der Geschichten wohl eher grau-braune ^^) Mischung von leisen und eindringlichen Kurzgeschichten zu ganz unterschiedlichen Themen. Themen, in die ich mich hineinversetzen konnte, Themen, die das Menschsein ausmachen und die in unserer Gesellschaft alltäglich sind. Denise Mildes kann erzählen und das ziemlich eindringlich, und dabei hat sie auch noch etwas zu sagen! Das ist das wirklich Bemerkenswerte an dem Buch.

Bewertung

Wendepunkte | epubli GmbH | 56 Seiten | 978-3737553063 | 5,99 Euro

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