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{Rezension} Der Atem einer anderen Welt von Seanan McGuire

Viele von uns kennen und lieben sie: die Geschichten von Kindern, die über einen magischen Spiegel oder seltsamen Kleiderschrank in eine verrückte Welt geraten und das Abenteuer ihres Lebens erleben. Doch enden diese meisten an der Stelle, an der das weltenreisende Kind wieder zu Hause ankommt. Was mit ihm danach geschieht, ist für uns nicht mehr von Interesse. Unsere Neugier wurde mit dem bestandenen Abenteuer und der Rückkehr in die Normalität befriedigt.

„Der Atem einer anderen Welt“ von Seanan McGuire legt den Finger genau auf diese Wunde. Denn Kinder, die die Grenzen unserer Realität überschritten haben, sind verändert. Ihre Abenteuer haben sie gezeichnet. Sie können nicht mehr zurück zu dem Leben, das sie einmal geführt haben. Sie sind nicht mehr kompatibel mit dieser Welt und ihrer Gesellschaft. Eine Chance erhalten sie in Miss Eleanor Wests Haus für Kinder auf Abwegen, wo sie frei von den Erwartungen ihrer Familien leben und heilen können. Das Ziel fast jeden Kindes hier ist es aber, endlich die magische Tür in die andere Welt, in sein wahres Zuhause, wiederzufinden.

Diese gebrannten Wunderkinder können für ihre Familien schwer zu verstehen sein. Für Menschen, die selbst nie durch eine Tür gegangen sind, klingen sie wie Schwindler. Wie Träumer. Man begegnet ihnen mit Mitleid oder hält sie schlicht für krank.

S.315

Drei Geschichten sind in diesem Buch zusammengefasst, die locker miteinander verbunden sind. In der ersten begleiten wir Nancy, die gerade aus einer Unterwelt zurückgekehrt ist und mit der schrillen, bunten und schnellen Realität gar nichts mehr anfangen kann. Gemeinsam mit ihr erkunden wir die neue Umgebung und die anderen Schüler. Allerdings werden die ersten Tage hier  schnell von einem Mord überschattet, der alle in Angst und Schrecken versetzt.

Die zweite Geschichte berichtet vom Abenteuer von Jack und Jill, die schon in der ersten Geschichte eine wichtige Rolle gespielt haben. Ihr Weg führt von ihrer Geburt über ihr Abenteuer in einer grausamen, blutigen Welt bis zur Rückkehr in unsere Welt. Es ist eine emotionale, tragische Geschichte, eine von denen, bei der man schon am Anfang weiß, dass viel Dunkelheit in der Zukunft liegt. Leider fühlt sich die Autorin aber wohl etwas zu oft dazu bemüßigt, den erhobenen Zeigefinger zu schwingen. Das fällt in allen Geschichten auf, hier übertreibt sie mit ihren Belehrungen aber zuweilen.

Die dritte Geschichte führt uns sowohl in eine Unterwelt als auch in eine Unsinnswelt, der ein gewisses Maß an Vernunft zugrunde liegt. (Die Kategorisierung der verschiedenen Welten in Tugend, Logik, Unsinn, Vernunft, Bosheit usw. ist ein interessanter und einfallsreicher Aspekt in McGuires Überlegungen.) Sie bildet die Fortsetzung zur ersten Geschichte, wobei die Reihenfolge der drei Geschichten anscheinend ein Diskussionspunkt ist und auch ich war nicht ganz glücklich damit. Und sie befasst sich mit einem Zeitparadox, das allerdings nicht wirklich konsequent durchdacht ist und im Kuchenland-Unsinn meiner Meinung nach leider untergeht. Mehr möchte ich aus Spoilergründen an der Stelle aber nicht verraten.

Es gibt Welten, die sind auf Regenbogen gebaut, und welche, die sind auf Regen gebaut. Es gibt Welten aus purer Mathematik, in der jede Zahl wie Kristall klingt, sobald sie Realität annimmt. Es gibt Welten aus Licht und Welten aus Finsternis […]

S.201
Buchcover Der Atem einer anderen Welt McGuire

In der Presse wurde „Der Atem einer anderen Welt“ hoch gelobt und auch ich war schier begeistert von der Idee und dem Schreibstil – bildreich und exzellent. Doch leider gab es auch Aspekte, die mir den Lesespaß an manchen Stellen genommen haben. Die Reihenfolge der Geschichten war einer. Ein anderer waren die mal unterschwelligen, mal sehr penetranten Belehrungen der Autorin darüber, wie Kinder nun mal sind und was man ihnen mit übersteigerten oder falschen Erwartungen antut. Sicher ist das ein wichtiges Thema, doch hätte man das auch anders verpacken können. 

Jedes Kind, das eine andere Welt betreten hat, tat dies, weil es schon von vornherein anders und nicht wirklich mit der Gesellschaft kompatibel war. Die Autorin greift vieles auf, von kulturellen oder religiösen Zwängen über das Problem, mit dem falschen Geschlecht geboren worden zu sein, bis zu körperlichen oder psychischen Abweichungen zum Standard. Meistens werden diese „Grundprobleme“ aber nur kurz angerissen, es geht kaum in die Tiefe, die wahren Gefühle oder Erlebnisse der Kinder werden nicht ausgesprochen und so bleiben sie selbst meist nur Stereotypen. 

Trotz dieser Kritik hat mir das Buch gut gefallen, denn es weicht wie die weltenreisenden Kinder von der Norm ab. Es erzählt auf besondere Weise vom Besonderen und das ist auf jeden Fall einen Blick wert. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie Eltern oder die Gesellschaft kritisiert, aber – das muss man ihr zugute halten – sie tut das meist in wirklich schönen Worten.

Fazit

„Der Atem einer anderen Welt“ von Seanen McGuire ist definitiv kein Standard. Es besitzt eine besondere Idee, Charaktere, die von der Norm abweichen, und einen wunderbaren Erzählstil. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass manches tiefgründiger betrachtet oder weniger „holzhammer-mäßig“ vermittelt worden wäre, thematisieren diese drei Geschichten wichtige Fragen zur Erziehung, zum Erwachsenwerden, zur Selbstfindung und natürlich auch eine herbe Kritik an unserer unflexiblen Gesellschaft.

Bewertung

Seanan McGuire: Der Atem einer anderen Welt |Fischer Tor | ISBN 978-3-596-29884-6 | 19,99 € (Hardcover)

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