Treibgut und Textschnipsel

Innerer Raum

„Tatsächlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass Jari so eine Reise unternahm. Um genau zu sein, geschah es sogar ziemlich oft, dass er sich in sich selbst hineinflüchtete, wann immer sein eigener schmutziger, trostloser Alltag zu unerträglich für ihn wurde. Es war seine besondere Fähigkeit, von der er noch niemals jemandem erzählt, sondern sie nur über Jahre hinweg in der Stille seines kleinen Zimmers perfektioniert hatte: die Fähigkeit, in seinem Inneren einen Raum zu schaffen, in den ihm niemand folgen konnte. Einen Raum ganz aus Leere und Stille, in dem er sich selbst und seine Umwelt neu gestaltete, wie es ihm gefiel. Dort gab es helle, freundliche Räume und liebevolle Eltern, die sich nicht ständig mit wüsten Beschimpfungen bewarfen – im besten Fall. Oder er erschuf weite, stille Landschaften, durch die er wandern konnte. Ganz allein, ohne Mitschüler, die ihm dumm kommen konnten, weil seine Klamotten so zerschlissen waren, oder Nachbarn, die ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Mitleid betrachteten. Wenn er sein Leben nicht mehr ertrug, nahm er sein verbittertes, vor Wut kochendes Ich und setzte es in eine Andere Welt, schickte es auf eine Reise, von der es nie wiederkommen sollte.“

– Anika Beer: Wenn die Nacht in Scherben fällt, Seite 29f.

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