Auf einem morgendlichen Spaziergang durch Leipzig im letzten Frühjahr führte mich mein Weg vorbei an einem kleinen Antiquariat in einer Seitenstraße. Draußen gab es zwei schmale Auslage mit Büchern für ein, zwei Euro. Und obwohl ich zu Hause gerade erst einen Riesenstapel Bücher aussortiert hatte, musste ich stehen bleiben. Das erste Buch, dass ich herauszog, war „Der Wörterschmuggler“. Was für ein poetischer Titel. Doch auch ein irreführender, denn im Original heißt das Buch „La Soledad“ – „Einsamkeit“ – und das ist viel passender.
„Niemand versteht die Einsamkeit besser als ich.“
S.7
Das Buch wird angepriesen als Roman voller Geheimnisse, Abenteuer und natürlich geschmuggelter Wörter. Doch wie der Titel ist leider auch dies ein Versprechen, das den Leser auf eine falsche Fährte führt. Irgendwie passt das aber doch wieder zu Bruno Labastide, dem rastlosen Abenteurer, der uns in diesem Buch eine Geschichte nach der anderen auftischt.
Den Leser erwartet mit „Der Wörterschmuggler“ weniger ein Roman als locker miteinander verbundene Erzählungen, gefasst in eine Rahmenhandlung, die in Venedig spielt. Hier lebt die geheimnisvolle Japanerin Keiko, die sich jede Nacht demjenigen hingibt, der sie mit seinen Versen am meisten berühren konnte. Und Labastide erzählt und sucht dabei nach der Geschichte, mit der er sie für sich gewinnen kann.
Gemeinsam gehen wir mit ihm auf die Reise durch sein abenteuerliches Leben, das ihn an viele Orte auf der Welt – ob Südamerika, Afrika oder Russland – führte. Überall gibt es kleine Geschichten zu entdecken. Ob sie jedoch wirklich erlebt wurden, bleibt ungewiss, denn wir lernen über Labastide, dass er sich gern als jemand ausgibt, der er gar nicht ist.
„Der erste Verbündete des Widerstands waren die Wellen. Am Strand schrieb Lucas seiner Geliebten schöne Botschaften in den Sand. Clara las sie vom Fenster ihres Zimmers aus, mit diesem Lächeln, das Gewitterwolken vertrieb. Und dann verrichten die Wellen ihr Werk und löschten die Wörter wieder aus […]“
S.74
Schon von der ersten Seite an hat das Schreiben von Natalio Grueso eine ungeheure Sogwirkung. Er schreibt nicht ausladend, nicht detailverliebt, aber poetisch und bildlich. In wenigen Worten zaubert er seine Leser ins eisige Leningrad, in einer verruchte Kneipe in Kambodscha oder in die edle Hitze von La Serenissima.
Zugegeben, nicht alle Geschichten haben meinen persönlichen Geschmack getroffen, aber es gab immer wieder etwas, das mich hat weiterlesen lassen. Kleine Botschaften zwischen den Zeilen, versteckte Lebensweisheiten oder einfach eine besondere Idee oder interessante Figur. Und oft auch wirkliche Spannung, wie diese und jene Begegnung ausgehen würde. Verbunden ist alles durch das übergeordnete Thema, das dem Original seinen Titel gab: die Einsamkeit. Grueso zeigt mit seinen Geschichten viele Nuancen dieses Gefühls.
Fazit
„Der Wörterschmuggler“ von Natalio Grueso ist ein dünnes Buch, gefüllt mit ganz viel Lebensweisheit. Wenn man sich von der Erwartung, einen Roman zu lesen, befreit hat, findet man zwischen den Zeilen und Seiten viele Einsichten, die einen zum Nachdenken bringen. Ich glaube, dies ist ein Buch, das man beim wiederholten Lesen immer wieder neu entdecken kann. Zu empfehlen in einsamen Stunden.
Bewertung
Natalio Grueso: Der Wörterschmuggler | 252 Seiten | Hoffmann & Campe (Atlantik) ISBN 978-3-455-60019-3 | Hardcover | 18 €
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