Willkommen in der Mitte vom Mai! Es ist wieder Zeit für unsere monatliche Serie „Verborgene Schätze“, in der wir euch Bücher, CDs und Filme vorstellen, von denen wir glauben, dass die mehr Aufmerksamkeit verdienen. In diesem Monat gibts einen Tipp aus dem Bereich Young Adult – aber nicht so eine wischiwaschi Liebesschnulze, sondern eine mit Substanz (okay und viel Herzklopfen)! Und einen sehr rätselhaften Roman, eine Mischung aus Psychothriller, Krimi, Mystery, Drama, Abenteuer. Beides echte Lese-Leckerbissen!
Sandys verborgener Schatz
Caroline & West von Ruthie Knox
Seit Caroline sich von ihrem Ex Nate getrennt hat, ist ihr Leben die Hölle. Autorin Ruthie Knox thematisiert in ihrer Geschichte nämlich ein sehr ernstes Thema, von dem viele Frauen betroffen sind. Nate – bisher eigentlich ein netter Kerl – wurde durch die Abfuhr von Caroline so verletzt, dass er die Fotos, die er von ihr beim Sex mit ihm gemacht hat, auf alle dafür gängigen Internetseiten gestellt hat – natürlich mit Carolines Namen und Kontaktdaten. Revenge Porn nennt man so etwas. Die Tat zerstört nach und nach Carolines Psyche und ihr Leben. Als angehende Jurastudentin muss sie nämlich nicht nur auf ihre weiße Weste achten, sondern auch die Erwartungen ihres Vaters erfüllen, der ein renommierter Richter ist. Als die Geschichte einsetzt, versucht sie schon seit Wochen, dieser Katastrophe Herr(in) zu werden und die Fotos aus dem Netz löschen zu lassen. Den Einstieg gestaltet die Autorin besonders dramatisch: Aus Carolines Sicht erfährt der Leser, wie sie die Bilder im Internet zum ersten Mal entdeckt hat – ein Schock, für sie und mich, sodass ich das Buch schon nach diesen wenigen ersten Seiten nicht mehr aus der Hand legen konnte. Jeder, der täglich Smartphone, Internet und Co. benutzt, wird die Beklemmung sofort nachvollziehen können.
Das Display füllte sich mit einem Bild von mir, oben ohne, mit Nates Penis im Mund.
Ich starrte darauf und holte tief Luft. Ich schloss die Augen. Ich konnte buchstäblich spüren – wie mir der Boden unter den Füßen wegbrach.
– Ruthie Knox: Caroline & West: Überall bist du, S.6
Carolines Versuche, die Bilder löschen zu lassen, sind kaum von Erfolgen gekrönt. Sie werden immer wieder neu hochgeladen und die widerlichen, anzüglichen und oft hasserfüllten Kommentare der User terrorisieren sie – per Mail und per Handy – sodass sie kaum noch schlafen oder essen kann. Ich habe mit ihr gelitten und Nate gehasst, dem Caroline nichts beweisen kann. Und ihre wachsende Einsamkeit gespürt, denn wenn so etwas passiert, kann man sein normales Leben nicht mehr führen. Man wird völlig aus der Bahn geworfen. Obwohl ihre Freunde von der Sache wissen und versuchen, ihr zu helfen, können sie das doch nicht und Caroline zieht sich mehr und mehr zurück.
Zum Glück gibt es den coolen West – und der ist echt heiß! Findet auch Caroline. Zwischen den beiden hatte es schon in dem Moment geknistert, als sie sich zu Semesterbeginn das erste Mal gesehen haben. Aber da gab es ja noch Nate und der hatte Caroline den Kontakt zu West mehr oder weniger untersagt. Jetzt ist der Ex zwar weg – aber seine Rache war perfekt. Die schmutzigen Beschimpfungen der Internetuser sind allgegenwärtig. Dass diese Thematik nicht komplett verloren geht, als es dann zwischen den beiden Protagonisten ernster wird, spricht dafür, dass sie der Autorin wirklich wichtig ist. Man spürt, dass hier nicht nur ein billiger Sex-Foto-Aufhänger gesucht wurde, um den eigentlichen Zweck „Lovestory“ in Gang zu bringen, sondern dass sich Ruthie Knox ernsthaft mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat.
Aber zurück zu West. Der wurde von der Autorin nämlich auch nicht vergessen. Der Badboy – jaha! – hatte hart daran gearbeitet, die miesen Verhältnisse, aus denen er kommt, zu überwinden und an dieser Uni zu studieren. Allerdings scheitert er daran. Er kann sein altes Leben nicht komplett ad acta legen, denn er hat eine kleine Schwester, um die er sich sorgt. Tausend Meilen weit weg muss er sich darauf verlassen, dass seine schwächliche Mutter nicht wieder zum gewalttätigen Vater zurückgeht und seine Schwester in Gefahr gerät. So ist er die ganze Zeit im inneren Konflikt zwischen seinem alten und seinem erhofften neuen Leben. Und um beides zu finanzieren – denn er unterstützt seine Familie von der Ferne – muss er sich den Methoden seiner Vergangenheit bedienen und Drogen dealen. Und dann ist da noch Caroline. Dass er etwas für sie empfindet, kann er sich nicht eingestehen, denn er glaubt, dass sein aktuelles Leben nur ein Gastspiel ist. Ein schöner Traum, aus dem er bald aufwachen wird, weil er sich um Mutter und Schwester kümmern muss. West ist so ein zerrissener Charakter, den man sofort in sein Herz schließt. Natürlich geht es Caroline ebenso.
„Wir waren nie zusammen.“
Die Worte fallen zwischen uns auf den Boden, ich schaue auf die Stelle, wo sie landen, direkt vor seinen Füßen. Im gefrorenen grauen Schneematsch. West steht gefasst da – breitbeinig, mit verschränkten Armen, die Restauranttür zehn Schritte hinter ihm, leuchtend wie ein Signalfeuer.
Er hatte das hier geplant. Er war darauf vorbereitet.
Und er ist immer noch unheimlich schlecht darin, so zu tun, als wäre es ihm scheißegal.
– Ruthie Knox: Caroline & West: Überall bis du, S.296
Ob durch die Vergangenheit oder die Ereignisse jetzt: Weder West noch Caroline sind glatte Charaktere. Sie haben Kanten und Risse bekommen. Sind nicht perfekt, haben beide schon so viele Enttäuschungen mitgemacht – West noch mehr als Caroline – und kommen aus zwei völlig unterschiedlichen Welten. Trotz oder gerade weil das so ist, sind die beiden so ein tolles Paar. Und die Liebesgeschichte der beiden ist wegen all dieser Dinge ein ständiges Up and Down. Immer, wenn ich dachte, dass es jetzt läuft, kam wieder was dazwischen. Wer könnte da das Buch aus der Hand legen? Mit der Veröffentlichung dieser einfach großartigen Geschichte blieb der Verlag Egmont INK mal wirklich seinem Motto treu: Er ließ mich (halbe) Nächte (total begeistert) durchlesen!
Ach ja – ohne noch mehr spoilern zu wollen: Natürlich gefällt Nate überhaupt nicht, dass West und Caroline miteinander anbandeln. Seine Rache ist schon vorprogrammiert und dieses Mal ist sie schlimmer als alles zuvor.
Ich hoffe, ich konnte euch diese tolle Geschichte schmackhaft machen. Hier stimmt einfach mal alles: wunderbare komplexe Charaktere, echte Gefühle und reale Probleme (nicht so ein schickimicki Teenyscheiß). Der Schreibstil der Autorin ist ebenfalls wirklich angenehm, wechselt von locker und humorvoll auch zu poetisch und dramatisch. Die Wechsel zwischen der Sicht von Caroline und der von West machen das Lesen noch dynamischer. Alles in allem für mich eine runde Geschichte und das mittreißendste Buch, dass ich seit sehr langer Zeit gelesen habe. Das brauch wirklich viel, viel, viel mehr Aufmerksamkeit!
Kristinas verborgener Schatz
Die drei Leben der Tomomi Ishikawa von Benjamin Constable
Seit der Mensch schreiben kann, hat er den Inhalt seines Kopfes dokumentiert, seinen Vorstellungen Namen gegeben, seine Träume verewigt, und dabei seine Erinnerungen verzerrt und neue erfunden. Jahrhunderte des Schreibens, Ozeane von Tinte. Ganze Wälder zu Brei gestampft, damit wir unsere Worte darauf festhalten können. Was ist, wenn niemand sie liest? Ich glaube, wir alle schreiben, damit jemand es liest, selbst wenn wir uns das Gegenteil einzureden versuchen. Aber ein Großteil dessen, was jemals geschrieben wurde, verfehlt diesen grundlegenden Zweck. Warum bist du nicht da, um meine Worte zu lesen, Tomomi Ishikawa? Halten wir alle bloß Selbstgespräche?
– Benjamin Constable: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa, S. 189
Wow, kaum zu glauben, dass ich dieses wundervolle Buch schon vor über 1,5 Jahren verschlungen habe, denn es ist mir noch so präsent wie damals. Es hat mich total überwältigt und meine Gedanken komplett durchgeschüttelt (nicht gerührt ^^). Für mich ist es ein zeitloser Klassiker, ein „All-Time-Favorite“ und ein „Top Ten“-Buch. Ich werde es bestimmt noch mehr als einmal lesen und dabei wieder viele neue Kleinigkeiten entdecken, die mir beim ersten Mal entgangen sind … Es ist eben ein wahrer Schatz.
Allein schon das Cover hat mich damals auf das Buch aufmerksam gemacht! Schaut euch mal die ganzen kleinen Symbole an, die da um die Kugel kreisen. Sie alle kommen in der Geschichte vor und haben eine besondere Bedeutung. Aber lasst euch nicht von der scheinbar fluffig-pinken-romantischen Stimmung blenden, denn es ist so ziemlich das GEGENTEIL davon. Das englische Originalcover gibt einen besseren Eindruck, wie die Geschichte wirklich ist: Ungewöhnlich und sehr düster.
Es ist verwirrend auf so viele Arten, dass ich es bis heute nicht vollständig durchdringen konnte. Ich weiß z. B. immer noch nicht, was der Titel genau bedeuten soll (warum DREI Leben? *grübel*) … Falls jemand mich aufklären möchte: Ich wäre euch sehr dankbar! Es fängt schon damit an, dass der Protagonist denselben Namen trägt wie der Autor. Außerdem klingen die Lebensumstände verdächtig ähnlich, immerhin will der Protagonist auch Autor werden und wohnt ebenfalls in Paris. Erster Satz: „Ich würde gern ein Buch schreiben, in dem du und ich die Hauptfiguren sind.“ Das ist kein Zufall, sondern ein schlauer Schachzug, um den Leser zu verwirren und Realität vollends mit Fiktion zu verschmelzen. In solcher Vollendung hab ich das noch nie erlebt. Man hat ein regelrechtes „Matroschka-Buch“ in Händen: Ein Buch im Buch im Buch. Ich habe mich oft dabei erwischt, mich zu fragen, wie viel aus dieser Geschichte mit dem realen Leben des Benjamin Constable übereinstimmt (was wohl genau die Absicht des Autors war). Hatte er selbst mal eine ähnlich schräge Freundin wie Tomomi? Hat er Ereignisse aus seiner Jugend eingebaut und die Schauplätze im Buch selbst besucht?
Die Geschichte strotzt nur so vor Symbolik. Ich erinnere mich u. a. noch an stehen gebliebene Uhren und eine imaginäre Katze. Es ist ein Rätsel, ein Märchen, ein märchenhaftes Rätsel, ein rätselhaftes Märchen. Der tragisch-schöne, bildhaft-berührende Schreibstil nimmt einen gefangen und lässt einen nicht mehr los. Man merkt, dass der Autor jedes Wort sehr sorgfältig gewählt und sich viele Gedanken um die Wirkung der Geschichte gemacht hat. Nichts ist zufällig, alles hat eine Bedeutung. Dabei sind die Geschichte und vor allem Tomomis Briefe sehr melancholisch und verstörend und haben mich auf einer tieferen, unbewussten Ebene berührt. Das Wort „mindblowing“ trifft es ganz gut, denn es hat mich ein paar Mal echt aus der Bahn geworfen. Es ist nicht einfach, nicht mal zum eben schnell zwischendurch lesen (obwohl ich es trotzdem in drei Tagen durchgesuchtet hatte, weil ich einfach wissen MUSSTE, worauf das alles hinausläuft). Die Geschichte hat dafür etwas Bleibendes, was sich für immer in den Kopf des Lesers frisst …
Es ist unmöglich, die Story einem Genre zuzuordnen, sie hat Elemente aus Psychothriller, Krimi, Mystery, Drama, Abenteuer und auch einem Hauch Humor und ist komplett UNVORHERSEHBAR. Tomomi ist auch eine Nummer für sich, mit ihren bizarren, depressiven Briefen und definitiv eine der schrägsten, extrovertiertesten und mysteriösesten Buchcharaktere aller Zeiten und am Ende habe ich mich ihretwegen gefragt: Wie gut kennen wir unsere Freunde wirklich?
Begebt euch zusammen mit Ben auf eine spannende Reise nach New York und Paris zu geheimen Orten, auf eine Schnitzeljagd mit widersprüchlichen Hinweisen, Irrungen und Wirrungen. Die Geschichte ist perfekt für Freunde der anspruchsvollen Literatur, die grübeln, rätseln und sich den Kopf zermartern wollen, die sich in die teils sehr merkwürdigen Charaktere einfühlen und mit schrägen Wendungen zurechtkommen können – für diese bietet es Lesespaß pur!
Mein Fazit: Mit „Die drei Leben der Tomomi Ishikawa“ wird dem Leser ein besonderes, mutiges und anspruchsvolles Abenteuer serviert, das wunderbar verwirrend und spannend bis zur letzten Seite ist! Die Verschmelzung von Realität und Fiktion ist für mich perfekt geglückt! Der Schluss hat mich durch die Mangel gedreht und komplett zerrissen wieder ausgespuckt. Denn es gibt wie im wahren Leben nicht die EINE Wahrheit, nein, es gibt Millionen und Abermillionen feine Variationen und wir werden nie eindeutige Antworten bekommen, werden nie wissen, woran wir am Ende wirklich glauben sollen. Lest es und lasst euch berauschen! Passt nur auf, dass ihr nicht herunterfallt vom düsterbunten Gedankenkarussell des Ben Constable …
Wenn du ein Leben ausgelöscht hast, zerbrichst du entweder an dem Schmerz, sobald dir die Schwere deiner Tat bewusst wird, oder du schlägst eine neue Seite auf und machst einfach weiter. Doch niemals wirst du der neuen Gewissheit entfliehen, dass weder Gott noch die allzu leicht veränderlichen Gesetze der Menschen ein Leben beschützen können; unser Dasein, so fragil, wird durch nichts geschützt als durch unser Vertrauen in das Gute – eine Lage so dünn wie Zellstoff. Der Tod lauert in jedem von uns.
– Benjamin Constable: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa, S. 223
Zum Stöbern die Homepage des Autors: http://www.benjamin-constable.net
1 Comment